Der Weg zur Stille


Die Suche nach dem, was beständig schon da ist

Was ist eigentlich Stille? Gemeinhin wird darunter die Abwesenheit von Geräuschen und Bewegung verstanden. Es ist anders. Sind Geräusche da, gibt es Bewegung, ist es nicht still. Sind keine Geräusche da, gibt es keine Bewegung, ist es dann still?

Also zurück zur Stille, was ist sie, wo ist sie?

Soll ich es Ihnen verraten?

Sie ist überall!

Sie ist der Urgrund, aus dem heraus jedes Geräusch, jeder Klang entspringt.

Sie ist das weiße Papier, von dem Sie jetzt gerade lesen und was Ihnen überhaupt möglich macht, die Buchstaben zu lesen (nur haben Sie das Papier bis gerade gar nicht wahrgenommen).

Sie ist das Meer, auf dem die Laute, die wir hören, die Bewegungen, die wir sehen, wie Schiffe herumsegeln.

Doch wir haben verlernt, dem Meer zu lauschen und schauen allein den Booten nach.

Stille ist wie all jenes auf einem Bild, was der Maler nicht malte. Betrachten Sie einmal aus dieser Haltung heraus ein Bild und entdecken Sie das Nichtgemalte. Besonders in der klassischen chinesischen Malerei ist dies bedeutsam, jenes, was der Maler nicht malte, den freien Raum, den er ließ.

Hier wird auch wieder das oft nihilistisch interpretierte Verständnis der „Leere“ deutlich. Im asiatischen Verständnis meint diese Leere den absolut freien Raum, in dem alles möglich ist, alles sein kann, während das hiesige Verständnis eher das „Fehlen von…“ ist.

Wenn Sie in diesem Augenblick lauschen, werden Sie sicherlich das eine oder andere Geräusch hören, vielleicht sogar Musik im Hintergrund, oder den laufenden Fernseher, und doch – dort, auch in diesem Moment, ist auch Stille! Vor und nach jedem Ton, jedem Geräusch. Und auch dahinter, wie die Leinwand eines Bildes. Entdecken Sie, wie beständig sie ist, die Stille, wie sanft, da sie nicht gegen irgendein Geräusch ankämpft und wie grenzenlos stark, da kein Laut sie überdauert.

Ist das nicht wunderbar?

Und nicht zuletzt: Wie nennen wir das Säugen von Kleinkindern? Stillen! Oberflächlich vielleicht, damit das Baby nicht mehr quengelt, aber letztendlich ist es Nähren und Stille ist Nahrung auf tiefster Ebene.


Stille ist das Licht des Herzens

„Adieu „, sagte der Fuchs. „Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

(Antoine de Saint Exupery, „Der Kleine Prinz“)

Ja, es ist wesentlich, mit dem Herzen zu sehen und tatsächlich erfahren wir die essentiellen Dinge des Lebens, des Seins, mit dem Herzen, nicht mit den Sinnen. Doch um mit dem Herzen zu schauen, braucht es Licht und Stille ist das Licht des Herzens. In einer lauten und umtriebigen Atmosphäre, innerlich wie auch äußerlich, ist es schwierig, mit dem Herzen zu sehen und wir „surfen“ eher aus der Sicht des Verstandes, des kognitiven Denkens über die Oberfläche des Seins. Der Verstand jedoch ist blind für die wesentlichen Dinge und ist allein emsig innerhalb der Matrix, der Welt der Konzepte, Vorstellungen und Theorien.

Ist die Stimme des Verstandes die lauteste im Chor der inneren Stimmen, so vermögen wir nicht der Stimme des Herzens zu lauschen, die in der Regel eine leise Stimme ist. Doch auch die Stimme des Herzens ist nicht immer eindeutig. Besonders, wenn die Sicht des Herzens getrübt ist, es nicht im Lichte der Stille sehen kann, dann vermittelt die trübe Sicht ein trübes Bild. Ist das Herz nicht gut genährt, ist es belastet oder hungert es gar selbst, dann ist es mehr mit Klagen und Gezeter beschäftigt, denn mit dem Sehen. Dann sieht es allein all das, was es glaubt, entbehren zu müssen und empört sich auf verschiedene Weise, laut oder bockig, depressiv oder hysterisch. Deshalb ist es wichtig, das Herz „gut zu nähren“ und zu befrieden. Wenn Sie mehr dazu erfahren wollen, so finden Sie ausführlichere Information in meinem Buch „Mit Qigong durch das Jahr“.

Tatsächlich gibt es eine tiefe Verbindung zwischen Herz (chin.: xin) und Geist (chin.: shen), denn im chinesischen Verständnis hat der Geist seinen Sitz im Herzen. Ist die Heimstatt des Geistes in Ordnung, so funktioniert auch der Geist adäquat und in Balance, ist das Herz aber in Aufruhr, dann agiert auch der Geist unklar und „fischt im Trüben“.